Am zurückliegenden Pfingstwochende fand in Moers das alljährliche moers festival statt. Meine Frau besuchte das Festival bereits einmal in ihrer Jugend, und nachdem sie im letzten Jahr dort aufgetreten war, machte sie den Vorschlag, in diesem Jahr doch mal einen Familienausflug nach Moers zu unternehmen. Um das Festivalzelt herum werden nämlich vom Veranstalter Flächen für Zelt- und Wohnmobilcamper ausgewiesen – ein toller Anlass, um uns einmal ein Wohnmobil zu leihen und eine Campingreise zu unternehmen.
Neben dem Konzertpublikum zieht das Festival auch unzählige, überwiegend trinkfreudige Camping-Gäste an. Zu den für Jazzfestivals obligatorischen Freaks und Alt-Hippies gesellen sich Punks, Skinheads, Heavy-Metal-Fans, Autonome, Hunde, und Jesus-Freaks. Dazu noch Familien und sonstiges, eher bürgerliches Publikum – eine ziemlich heterogene Menschenansammlung also. (Interessant ist in diesem Zusammenhang, das der Springer-Konzern das Festival nutzte, um in Moers kostenlose Bild-Zeitungen zu verteilen. Kaum ein Punk, der einem nicht mit der Bild-Zeitung unterm Arm vom morgendlichen Brötchenholen entgegenkam – das hätte es früher nicht gegeben!)
Am Eingang zum Konzertzelt die nächste Irritation: es wird Ohropax verteilt. Damit wollen sich die Festivalmacher nicht etwa von ihrer Programmgestaltung distanzieren, nein: man warnt vor zum Teil zu hoher Lautstärke der Konzerte. Eine umsichtige Geste, aber warum löst man das nicht einfach mittels Mischpultregler? Das Programm ist in Moers traditionell sehr bunt gemischt und avantgardistisch. Am Freitag schauten wir kurz bei der skanidinavischen Rockband Ultralyd herein, und anschließend bei Sharon Jones and The Dap Kings – einer klassische Soulband aus NYC. Aber erst Eckard Koltermanns Band Border Hopping bringt am Samstag mit Markus Conrads den ersten Kontrabassisten des Festivals auf die Bühne. Insgesamt überwogen in Moers Besetzungen mit E-Bass oder ganz ohne Bass – was die dargebotenen Musikgenres fast schon hinreichend charakterisiert. Auch die australische Jazzpianistin Andrea Keller tritt mit einem basslosen Quartett auf – als ihr Bassist vor einiger Zeit nach New York ausgewandert ist, beschloss sie, die Lücke konzeptionell zu füllen. Zuvor sahen wir noch die japanische Band Cornelius, die gefällige Popmusik mit einer eindrucksvoll auf den Punkt getimten Video- und Lichtprojektion kombinierte, und die Band Gnawa Crossroads, die Musik und wallende Gewänder ihrer nordafrikanischen Heimat präsentierte – optisch wie musikaisch ein Gegensatz, wie er größer kaum sein könnte.
Ein Merkmal bestimmter Festivals sind speziell zusammengestellte Besetzungen, von den Programmgestaltern initiierte Festivalprojekte. Auch im Programmheft von Moers liest man viel von “musikalischen Wunschpartnern” und der “Erfüllung langgehegter (Musiker-)Träume” durch die Programmgestalter. Natürlich kann ein Festival Möglichkeiten bieten, die sich für die Musiker so sonst nicht ergeben. Zudem ist nachvollziehbar, dass sich ein Festivalprogramm vom übrigen Konzertbetrieb abheben möchte, indem es Musiker in neuen, auch mal ungewohnten Konstellationen auftreten lässt. Ich finde es aber oft sehr schade, wenn gut eingespielte Bands nicht die Möglichkeit haben, ihr eigentliches Programm zu präsentieren, sondern stattdessen eine Konzeptaufgabe gestellt bekommen, um vermeintlich “ausgetretene Pfade zu verlassen”. (Moers ist damit allerdings nicht allein: bei unserem Frankfurter Jazzfestival scheint es für die Verantwortlichen das Höchste zu sein, Jazzmusiker zusammen mit abgehalfterten Rock-Idolen ihrer Jugend auf die Bühne zu bringen. Warum darf ein Jazzfestival nicht einfach ein Jazzfestival sein?)
Auch Steve Coleman, einer der Top-Acts des Festivals, fiel so mutmaßlich einer Konzeptidee der Programmmacher zum Opfer. Neben Colemans Sextett standen bzw. saßen vier Hiphop-Musiker auf der Bühne, die von Colemans rhythmisch und metrisch anspruchsvoller Musik aber etwas überfordert wirkten. Lediglich der Schlagzeuger konnte sich wirklich intigrieren. Die beiden Frontmen saßen hinter ihren Keyboards wie Alleinunterhalter hinter der Heimorgel, und drückten gelegentlich ein paar Knöpfe – wozu, blieb unklar. Mit Colemans Bassist Thomas Morgan stand übrigens auch endlich wieder ein Kontrabass auf der Bühne.
Haden Chisholm’s The Ambassadors (zwei Bläser, zwei Streicher, Schlagzeug, Kontrabass) bildete einen gelungenen Abschluss unseres Moers-Besuchs. Endlich mal wieder Harmonien! Akkorde! Dynamik! Eine Band, die man gerne auch nochmal in der Musik zuträglicherer Clubatmosphäre sehen möchte.
Insgesamt präsentierte sich das moers festival als eine sehr gut und engagiert organiserte Veranstaltung. Die Website bietet neben den Programmheft-Texten auch Links zu Musikbeispielen und sogar Podcasts und Videocasts. Vorort kann man das Festivalgeschehen auf dem eigenen Radiosender mitverfolgen, und sogar die Pausenmusik (“Aaantooon!”) lässt sich als mp3 herunterladen. Musikalisch gesehen ist es aber konsequent, dass das Festival bereits seit einiger Zeit nicht mehr als Jazz-Festival firmiert, denn Jazz spielt hier tatsächlich nur noch eine Nebenrolle.